Allerweltsparteien in der Schweiz?

Eine Überprüfung der Catch-all Party-These 
anhand des schweizerischen Parteiensystems

Referat im Rahmen des Seminars „Politische Ideen und ihre Träger“

November 1999 Marc Bühlmann

1.Der Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems ­ die These von Otto Kirchheimer als Ausgangslage

2.Wandel des Parteiensystems in der Schweiz?

3.Die catch-all party in der Schweiz? 

Einleitung

Die These von Otto Kirchheimer, die er 1965 in der Politischen Vierteljahresschrift in seinem Text „Der Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems“ aufgestellt hat, wird in folgender Arbeit anhand der Schweiz überprüft. Zwei Fragestellungen stehen dabei im Mittelpunkt. Einerseits geht es darum mit Hilfe von empirischem Material zu zeigen, dass das Parteiensystem in der Schweiz sich nicht in Richtung „veramerikanisiertes“ Zwei-Parteien-System verändert hat. Dafür sind auch Systemgründe verantwortlich. 

Zum zweiten wird analysiert, dass Kirchheimers Überlegungen zumindest ansatzweise auf der Mikroebene ihre Berechtigung auch in der Schweiz besitzen. Die Regierungsparteien in der Schweiz machen sich einige Strategien der „Allerweltspartei“ mehr oder weniger stark zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu eigen. Allerdings machen sie dies schon 1979 und es kann bei keiner Partei eine lineare Bewegung Richtung „Allerweltspartei“ festgestellt werden. 

1.Der Wandel des Westeuropäischen Parteiensystems ­ die These von Otto Kirchheimer als Ausgangslage

Otto Kirchheimer[1] stellt in seiner 1965 in der Politischen Vierteljahresschrift erschienenen Arbeit die These auf, dass sich die Parteiensysteme Westeuropas transformieren würden. Die bürgerlichen Parteien, die aus wenigen durch Klassenzugehörigkeit privilegierten Politikern bestanden und mit den Worten Kirchheimers „Klubs für parlamentarische Repräsentation“ (1965: 26) darstellten, waren vorerst nicht in der Lage die proletarische Masse in das politische System einzubinden. Diese Aufgabe übernahmen die Massen-parteien, wovon Kirchheimer die demokratischen, auf Klassen- oder Konfessionsbasis basierenden Massenparteien auf der einen und die prinzipiellen Oppositionsparteien, welche versuchten, die Massen gegen das System auszuspielen auf der andern Seite unterscheidet. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich alle drei Typen gezwungen, die „politischen Marktgesetze“ (1965: 27) anzuerkennen. Will heissen: um zu überleben, mussten die Parteien möglichst viele Wählerstimmen auf sich vereinen können. Kirchheimer stützt sich hier auf die Idee von Anthony Downs[2]. Dieser stellt sich die Politik grundsätzlich als einen nach Marktprinzipien funktionierenden Wettbewerb um Wählerstimmen vor. Den Parteien geht es nicht mehr um die Eingliederung der Massen ins System, sondern sie betrachten diese als Wählerpotential. „Sie opfert also eine tiefere ideologische Durchdringung für (...) einen rascheren Wahlerfolg.“ (Kirchheimer, 1965: 27). Dieser Wandel tritt auch deshalb ein, weil der wirtschaftliche Wohlstand wächst, das soziale Sicherungsnetz stärker wird und die BürgerInnen deshalb beginnen, vom Staat mehr als nur Schutz zu fordern. 



 

Ê
 
Ê

Um möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen, vertritt die (Allerwelts-)Partei keine grossen gesellschaftlichen Ziele mehr, sondern sie konzentriert sich auf begrenzte politische Aufgaben, die einen unmittelbaren Wahlerfolg versprechen. Die Führer der Parteien werden zu wichtigen Vorzeigefiguren, anhand derer sich die Wähler mit der Partei identifizieren können. Durch die Stärkung der Parteispitze wird die Rolle des einzelnen Parteimitgliedes entwertet. Die Partei setzt nicht mehr auf die Loyalität ihrer Mitglieder, sondern auf die Wirksamkeit ihrer kurzfristigen Parteiprogramme. Die ursprüngliche Massenparteien werden zu „Parteien als professionell geführtes Unternehmen“ (Katz/Mair, 1993) zu „professional electoral parties“ (Panebianco, 1988) oder eben zu Allerweltsparteien.

Weil die Allerweltspartei mit ihrer Strategie erfolgreich ist, kopieren andere Parteien dieses Vorgehen. Dies hat zur Folge, ­ so die Quintessenz Kirchheimers ­ dass die Parteien sich angleichen in Form, Organisation und Programm. Endpunkt dieser Entwicklung würde ein reines Zweiparteiensystem bilden. Auch die konservativen Parteien (konservativ im Sinne von: „dem alten Politikstil behaftet bleibend“), die vorerst noch als Überbleibsel ein Nischendasein fristen und auf die Loyalität ihrer Mitglieder bauen, müssen sich mit der Zeit dem Druck der grossen beiden Parteien beugen.

Kirchheimer repetiert in einem zweiten Teil die Merkmale der „catch-all party“: 

·sie ist auf unmittelbaren Wahlerfolg aus

·die Massen werden nicht mehr ideologisch eingegliedert, sondern nur noch als Wählerpotential betrachtet

·   die Partei vertritt keine umfassenden gesellschaftlichen Ziele mehr, sondern konzentriert sich auf begrenzte politische Aufgaben mit Blick auf unmittelbaren Wahlerfolg; sie konzentriert sich auf Fragen, die in der Gesellschaft kaum umstritten sind

·einzelne Exponenten der Partei geniessen grosse Popularität

·die Programme werden möglichst allgemein gehalten (im Sinne von Prognosen, die eine glücklichere Zukunft voraussagen), um alle Wählerschichten ansprechen zu können

·aus unvorhergesehenen Situationen wird möglichst viel Kapital geschlagen

·die Partei hat zum Ziel, politische Aktionspräferenzen festzulegen; dafür besetzt sie öffentliche Ämter mit eigenen Parteimitgliedern (was ihr nur gelingt, wenn sie viele Wählerstimmen erhält)

·die Partei bewegt sich zwischen Opposition und Systemstützung hin und her

·weil einzelne wahlmitentscheidende Faktoren nur begrenzt beeinflusst werden können, braucht die Partei trotzdem einen bestimmten Rückhalt, welchen sie sich in Interessen-verbänden sichert

2.Wandel des Parteiensystems in der Schweiz? 

Auf der Makroebene behauptet Kirchheimer die Konvergenz der Parteien in Organisation, Form und Programm. Mit anderen Worten bedeutet dies:

·die Anzahl der Parteien nimmt mit der Zeit drastisch ab

·die Programme der Parteien nähern sich an

·die soziokulturelle Komposition der Wählerschaft der Parteien gleicht sich mit der Zeit an

·die Parteienstärken verschieben sich mit der Zeit in Richtung Zweiparteiensystem

Anhand empirischer Daten aufgrund der Wahlresultate und ­nachbefragungen lässt sich zeigen, dass diese vier Punkte auf die Schweiz nicht zutreffen:

a)Die Anzahl der Parteien nimmt mit der Zeit drastisch ab

Langfristig haben laut Kirchheimer nur die Allerweltsparteien Überlebenschancen. Diese saugen die Wähler aller kleineren, ideologisch ausgerichteten „Nischen- und Klubparteien“ mit der Zeit auf. Ein Blick auf die Anzahl der Parteien in der Schweiz zeigt, dass diese Behauptung nicht stimmt.

Abbildung 2: Anzahl Parteien im Parlament 
 
Jahr
1979
1983
1987
1991
1995
1999
Anzahl
13
12
13
14
14
14

Quelle: Bundesamt für Statistik

Abbildung 2 zeigt, dass die Anzahl der Parteien in der Schweiz nicht im Abnehmen begriffen ist. Im Gegenteil: sie bleibt konstant hoch. Die Schweiz hat eines der höchst fraktionalisierten Parteiensysteme der Welt. Im Vergleich mit 22 westeuropäischen Demokratien ist sie zusammen mit Finnland zwischen 1945 und 1980 das Land mit der grössten Anzahl an Parlamentsparteien im Schnitt (vergleiche Lijphart, 1984: 122). Aber: zeigt die Inkorporierung der FP und der SD in die SVP, dass Kirchheimer zumindest mit einiger Verspätung in der Schweiz doch recht bekommt. Hat sich nicht auch die SP die kleinen linken Parteien wie Poch oder FraP! einverleibt. LdU und Freiheitsparteidiskutieren über ihre Auflösung und die LPS ist im Ständerat nicht mehr vertreten. Ist zu erwarten, dass dieser Trend weiter geht? Die Entwicklung der Sitzverteilung kann hier Aufschluss geben (vergleiche Abbildung 3).

Mindestens trendmässig scheint sich die Sitzverteilung ­ nach einem Zwischenhoch der kleineren Parteien ­ wieder zugunsten der vier Regierungsparteien zu verschieben. Ob dies jedoch ein Indiz für Kirchheimers These darstellt, darf zumindest bestritten werden, da diese Entwicklung nicht mit einer Verringerung der Anzahl Parteien einhergeht.


 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Abbildung 3: Sitzanteile der Parteien im Nationalrat von 1979 bis 1999

Quelle: Bundesamt für Statistik

b)Die Programme der Parteien nähern sich an

Um bei den WählerInnen Erfolg zu haben, müssen sich die Parteien auf kurzfristige Programmpunkte konzentrieren. Mit langfristigen Politiken machen die Parteien höchstens noch bei loyalen StammwählerInnen, die aber ebenfalls im Abnehmen begriffen sind, Punkte. Da bei Wahlen jeweils nur wenige Themen aktuell sind, konzentrieren sich alle Aller-weltsparteien auf diese, was sich in ihren Wahlprogrammen äussert. Diese gleichen sich mit der Zeit an, so die These Kirchheimers. 

Brändle (1999) misst die Links-Rechts-Ausprägungen der Parteiprogramme über die Zeit Nach dem Vorbild-Modell der Manifesto Research Group bzw. der Links-rechts-Skala von Laver und Budge. 

Eine Konvergenz der Programme lässt sich nicht eindeutig nachweisen, wie Abbildung 4 zeigt. Allerdings sind hier die Wahlen von 1999 noch nicht einbezogen. Die Programme der vier grossen Regierungsparteien nähern sich ­ wenn überhaupt ­ nur sehr marginal an, analysiert man diese mit Hilfe eines Links-Rechts-Schemas (Vorgehen vergleiche Brändle, 1999).

Abbildung 4: Die Parteiprogramme der vier Regierungsparteien in der Links-Rechts-Dimension von 1979 bis 1995. Minuswerte versinnbildlichen eine Position rechts der Mitte, Pluswerte eine Position links der Mitte.


 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Quelle: Brändle, 1999

c)Die soziokulturelle Komposition der Wählerschaft der Parteien gleicht sich mit der Zeit an

Die WählerInnen der früheren Parteien, die mit ideologischen Standpunkten operierten und vor allem die Stammwählerschaft ansprachen, unterschieden sich in ihrer sozialen Struktur deutlich voneinander. Katholiken wählten die Katholischen-Konservativen, Bauern wählten die Bauernpartei, Arbeiter wählten die Sozialdemokraten und Unternehmer und Gewerbetreiben-de wählten die Liberalen. Die Struktur der Wählerschaft blieb sich gleich. 

Die Allerweltspartei zeichnet sich im Gegensatz dazu dadurch aus, dass ihre Wählerschaft sehr heterogen ist. Die catch-all party spricht alle sozialen Schichten an, wenn diese ihr Stimmen versprechen.

Die Datenlage erlaubt für einen Vergleich von 1979 bis 1999 lediglich den Gebrauch von sieben Merkmalen der Wählerschichten (Frauenanteil, Konfession, Alter, Berufsstatus, Siedlungsart, Bildung, Links-Rechts-Werte). 

Abbildung 5 zeigt die soziokulturellen Profile der vier Bundesratsparteien im Vergleich über die Zeit. Es gab zwar Verschiebungen bei den einzelnen Merkmalen und das Wählerprofil der Regierungsparteien sieht 1999 nicht mehr gleich aus wie vor 20 Jahren. Es ist aber immer noch so, dass die FDP-WählerInnen in der Regel älter als 40 sind und dass sie einen hohen Berufsstatus aufweisen. Auch die Wählerschaft der SP ortet sich nach wie vor viel stärker links ein, als die WählerInnen der Bürgerlichen. Der Berufsstatus der SympathisantInnen der Sozialdemokraten bleibt eher tief und es sind vor allem StädterInnen, die SP wählen. Bei der CVP verändert sich die Wählerschaft. Die CVP bleibt aber nach wie vor jene Partei mit dem höchsten WählerInnenanteil an Katholiken. Die grössten Verände

rungen weist die SVP innerhalb der letzten 20 Jahre auf. Sie erschloss auch Wählerschichten in Städten und mit hohem Berufsstatus. Auch bei den jüngeren Wäh-lerInnen konnte sie Stimmen finden. Trotz dieser Veränderungen sind die WählerInnen der einzelnen Parteien immer noch recht homogen und die Wählerschaft unterscheidet sich zwischen den Parteien nach wie vor. Dies lässt sich insbesondere an der Links-Rechts-Skala zeigen. Abbildung 6 zeigt eine einfachste Zusammenfassung[3] der Links-Rechts-Skala. Je kleiner der Wert, desto linker schätzt sich die Wählerschaft der jeweiligen Partei auf der Skala ein. Der Abbildung ist zu entnehmen, dass sich das Profil der Wählerschaft der Parteien nicht annähert, sondern sogar ­ zumindest was die bürgerlichen Parteien anbelangt ­ auseinanderzudriften scheint.

Abbildung 5: Die soziokulturellen Profile der Bundesratsparteien von 1979 bis 1999 (Angaben in Prozent)
 
Partei / Merkmal
1979
1983
1987
1991
1995
1999
Profil der FDP-WählerInnen
Frauen
47
42
43
41
51
48
Katholiken
36
49
42
48
30
43
Unter 40jährige*
34
25
29
33
40
26
Berufsstatus hoch 
33
30
21
36
39
41
Siedlungsart Land
-
52
32
39
33
35
Links auf Links-Rechts-Skala
-
-
9
11
8
11
Rechts auf Links-Rechts-Skala
-
-
50
46
56
39
Hohe Bildung
-
-
41
26
36
34
Profil der SP-WählerInnen
Frauen
40
40
45
48
54
53
Katholiken
30
31
39
27
31
25
Unter 40jährige*
29
37
35
39
52
38
Berufsstatus hoch 
11
13
7
13
28
18
Siedlungsart Land
-
34
26
30
27
29
Links auf Links-Rechts-Skala
-
-
69
76
69
79
Rechts auf Links-Rechts-Skala
-
-
4
3
11
3
Hohe Bildung
-
-
24
31
43
45
Profil der CVP-WählerInnen
Frauen
40
46
43
47
53
52
Katholiken
91
93
93
84
78
75
Unter 40jährige*
25
30
25
26
44
31
Berufsstatus hoch 
17
17
18
27
37
40
Siedlungsart Land
-
59
40
68
42
37
Links auf Links-Rechts-Skala
-
-
13
9
12
14
Rechts auf Links-Rechts-Skala
-
-
43
47
42
30
Hohe Bildung
-
-
17
26
37
30
Profil der SVP-WählerInnen
Frauen
42
28
44
47
46
44
Katholiken
7
24
9
16
29
20
Unter 40jährige*
29
31
33
36
36
38
Berufsstatus hoch 
17
10
13
19
38
42
Siedlungsart Land
-
47
60
58
39
42
Links auf Links-Rechts-Skala
-
-
10
6
4
3
Rechts auf Links-Rechts-Skala
-
-
49
45
71
75
Hohe Bildung
-
-
24
13
28
23

* 1995: unter 45jährige

Quellen: VOX-Analyse der Wahlen 1979 bis 1991, selects 1995, Bundesamt für Statistik, „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“


Abbildung 6: Links-Rechts-Orientierung der Wählerschaft der Regierungsparteien von 1987 bis 1999 (1 = 100% der Wählerschaft schätzt sich links ein; 2 = 100% der Wählerschaft schätzt sich in der Mitte ein; 3 = 100% der Wählerschaft schätzt sich rechts ein).

Quellen: VOX-Analyse der Wahlen 1987, 1991, Selects 1995, „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

d)Die Parteienstärken verschieben sich mit der Zeit in Richtung Zweiparteiensystem

Die Parteienstärken (Anteil WählerInnenstimmen für die Partei am Gesamttotal der abgegebenen WählerInnenstimmen an den jeweiligen Wahlen in Prozent) zeigen in einem Wettbewerb um Wählerstimmen sozusagen das Einkommen der Partei an. Je grösser die Parteienstärke, desto erfolgreicher war das Buhlen einer Partei um WählerInnenstimmen. Die ökonomische Theorie der Politik sagt voraus, dass im politischen Markt letztendlich nur zwei Parteien übrigbleiben, da die Parteien sich von zwei Seiten her dem Median annähern, wo sie die meisten WählerInnenstimmen zu erhalten erwarten. Dort hat es aber lediglich Platz für zwei Parteien.

Abbildung 7 zeigt die Verschiebung der Parteienstärken der vier Regierungsparteien und der übrigen Parteien in der Schweiz in den Wahlen von 1979 bis 1999. Der Befund ist ähnlich wie unter Punkt a): Kirchheimers These lässt sich nicht bestätigen. Zwar dehnen die Regierungsparteien ihre Parteistärken auf Kosten der kleineren Nicht-Regierungsparteien aus, es ist jedoch keine Konvergenz auf ein Zweiparteiensystem hin festzustellen. Der Verlauf der Kurven würde ­ in diesem kurzen Zeitabschnitt ­ sogar weniger auf eine lineare, als vielmehr auf eine sinusartige Entwicklung schliessen lassen.


 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Abbildung 7: Parteienstärken im zeitlichen Vergleich

Quelle: Bundesamt für Statistik

Weitere spezifische Punkte des schweizerischen Politiksystems sprechen gegen die Konvergenztheorie Kirchheimers. Er selber nennt in seinem Text, dass in kleinen Demokratien „die zwischenparteilichen Beziehungen auf der Grundlage eines fest umrissenen Wettbewerbs (wie z.B. in der Schweiz)“ eher stabilisiert würden, „als zur Form eines politischen Kampfes zwischen Allerweltsparteien überzugehen, der mehr einem Würfelspiel gleicht.“ (1965: 30)

Daneben erlaubtdas schweizerische Proporzwahlsystem, dass sich vor allem in bevölke-rungsreichen Kantonen mit vielen Nationalratssitzen auch die kleinen Nischenparteien durchaus ihre Chancen auf einen Sitz in der Legislative ausrechnen können. 

Zauberformel, Konkordanz und Föderalismus dürften zudem als wettbewerbshemmende Faktoren aufgefasst werden, um es im ökonomischen Jargon auszudrücken. Sie verhindern mitunter, ­ zumindest in der Tagespolitik ­ dass sich einzelne (Mutter)Parteien zu stark profilieren können (vergleiche z.B. Linder, 1999: 88ff.)

Fazit: Die empirischen Befunde zeigen, dass das Parteiensystem in der Schweiz sich nicht in die von Kirchheimer vermutete Richtung bewegt. Zumindest konnte belegt werden, dass in der Schweiz sich:

·die Zahl der Parteien nicht drastisch verkleinert

·die Parteiprogramme der Regierungsparteien nicht angleichen

·die soziokulturellen Profile der Parteien nicht angleichen

·die Parteienstärken nicht auf nur noch zwei Parteien verteilen

3.Die catch-all party in der Schweiz? 

Kirchheimers These lässt sich nicht nur auf der Makroebene überprüfen. Es ist weiter von Interesse zu analysieren, ob sich einzelne Parteien (Mikroebene) in Richtung catch-all party verändern. Zumindest bei einzelnen Parteien in der Schweiz liegt die Vermutung nahe, dass sie sich von „ideologischen“ Parteien zu Parteien wandeln, die sich in einem permanenten Wahlkampf befinden, die sich programmatisch nicht mehr auf spezifische WählerInnen-schichten konzentrieren, deren Wählerschaft vermehrt Personen wählt und nicht mehr politische Programme und Leistungen. Ist es so, dass das Parteiprogramm der FDP sich durch wenig Konstanz auszeichnet, dass sich die Partei also nur auf kurzfristige Schwerpunkte im Hinblick auf die Wahlen zu profilieren versucht? Kann gesagt werden, dass die SP ihre Wählerschaft in immer neuen Segmenten erschliesst? Bewegt sich die SVP tatsächlich so geschickt zwischen Oppositions- und Regierungspartei hin und her, wie dies vermutet wird und wie dies Kirchheimers Allerweltspartei tatsächlich tun würde? Zeichnet sich die CVP durch eine zunehmende Professionalisierung aus? Oder kurzum: bewegen sich die Regierungsparteien[4] in der Schweiz in Richtung Allerweltsparteien? Dieser Frage soll im dritten Teil dieser Arbeit nachgegangen werden.

Die Merkmale der Allerweltspartei sind laut Kirchheimer unter anderem[5]:

·Keine Parteientreue 

·Personenbezug als Identifikationsansatz (und nicht die Weltanschauung der Partei)

·Wechselspiel zwischen Oppositions- und Regierungspartei (bzw. systemstützender Partei)

·WenigKonstanz im Parteiprogramm

·Zunehmende Professionalisierung

·Heterogenität der Wählerschaft

Die einzelnen Punkte werden analysiert und soweit möglich über die Zeit von 1979 und 1999 zwischen den vier Regierungsparteien verglichen. Die Ausprägungen werden indiziert und am Schluss zu einem Gesamtindex zusammengefasst. Dieser wird verglichen mit dem „Idealtypus Allerweltspartei“, um zu zeigen, ob und welche Parteien sich tatsächlich in Richtung Allerweltspartei entwickeln und ob diese Entwicklung linear verläuft (siehe 3g). 

a)Keine Parteientreue 

Die Allerweltspartei zeichnet sich nicht aus durch eine grosse Stammwählerschaft. Sie ist im Gegenteil nicht angewiesen auf treue ParteiwählerInnen und muss auf solche in ihrem Programm und ihrem politischen Tun wenig Rücksicht nehmen. 

In den VOX-Umfragen und in der „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“ werden die interviewten WählerInnen nach ihrer Wahlentscheidung in den Vorwahlen befragt. Als parteitreu gilt, wer den gleichen Listenentscheid fällt, wie in den Wahlen vier Jahre zuvor.

Abbildung 8: Die Parteientreue der Wählerschaft der Regierungsparteien von 1979 bis 1999 


 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Quellen: VOX-Analyse der Nationalratswahlen 1979 bis 1991, selects 1995 und „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

Abbildung 8 macht deutlich, dass sich bei keiner Partei eine lineare Entwicklung Richtung 50% Wählertreue feststellen lässt. Nimmt man die Mittelwerte aller vier Parteien aus jedem Wahljahr, so lässt sich bis 1991 ein leichter Abwärtstrend feststellen. Hier hätte also behauptet werden können, dass sich das Parteiensystem allgemein Richtung „catch-all party“-System entwickelte. Der Mittelwert von 1999 zeigt aber wieder einen Aufwärtstrend. (vergleiche Abbildung 9). Die Wählerschaft wird zumindest den Bundesratsparteien wieder vermehrt treuer.


 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Abbildung 9: Die Parteientreue der Regierungsparteien im Schnitt über die Zeit

Quellen: VOX-Analyse der Nationalratswahlen 1979 bis 1991, selects 1995 und „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

b)Personenbezug als Identifikationsansatz 

Die Allerweltspartei zeichnet sich aus durch zugkräftige Personen an der Spitze der Partei. Laut Kirchheimer orientiert sich die Wählerschaft der Allerweltspartei für die Wahl nicht mehr an der Ideologie der Partei, sondern an deren Personal. Je höher der Bekanntheitsgrad einer Person ist, desto mehr Stimmen sammelt diese auch für ihre Partei. 

Die WählerInnen der Allerweltspartei identifizieren sich via Personen mit dieser und nicht via Weltanschauung. Ihre Stimme für die Partei ist primär „KandidatInnen-Stimme“ und nicht „Ideologiestimme“. In den letzten 20 Jahren scheint sich die Wählerschaft der Regierungsparteien bei ihrer Wahlentscheidung tatsächlich eher auf Personen als primäre Identifikationsansätze zu stützen. Der Wahlgrund „Ideologie“ spielt demgegenüber mit der Zeit eine immer weniger wichtige Rolle. Die Fragestellungen bei den VOX-Nachbefragungen von 1979, 1983, 1985 und 1991, der selects-Studie von 1995 und der „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“ sind unterschiedlich, so dass die Daten nur mit Vorsicht zu interpretieren sind. Abbildung 10 verdeutlicht die steigende Wichtigkeit des Personenbezugs und Abbildung 11 die sinkende Bedeutung der Ideologie für den Wahlentscheid. 


Abbildung 10: Personen als Wahlgrund für die Regierungsparteien . Entwicklung von 1979 bis 1999 (Anteil der Wählerschaft einer Partei, die „Personenbezug“ als Wahlgrund angibt in Prozent)

Quellen : VOX-Nachbefragungen von 1979, 1983, 1985 und 1991, selects 1995 und der „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

Abbildung 11: Weltanschauung/Ideologie der Partei als Grund für die Wahl einer Regierungspartei (Anteil der ParteiwählerInnen, welche die Weltanschauung der Partei als Wahlgrund angeben).


Quellen : VOX-Nachbefragungen von 1979, 1983, 1985 und 1991, selects 1995 und der „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

Es wird deutlich, dass der Personenbezug für den Wahlentscheid eine wichtigere Rolle zu spielen beginnt als die Ideologie einer Partei (Abbildung 12 macht dies noch einmal deutlich). Allerdings tut sich keine der Regierungspartei deutlich als Allerweltspartei hervor, in dem Sinne, dass deren Wählerschaft primär Personen und erst sekundär Weltanschauung wählt. Dieser Punkt weist also nicht darauf hin, dass in der Schweiz Allerweltsparteien im Entstehen begriffen sind.


Abbildung 12: Personenbezug und Weltanschauung als Wahlgrund der Anhängerschaft der vier Regierungsparteien im Schnitt und im Verlauf der Zeit

Quellen : VOX-Nachbefragungen von 1979, 1983, 1985 und 1991, selects 1995 und der „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

c)Wechselspiel zwischen Oppositions- und Regierungspartei (bzw. systemstützen-der Partei)

„Die (Allerwelts- Anm. des Verfassers)Partei muss ständig zwischen ihrer Rolle als Kritikerin und ihrer Rolle als Rückhalt für das bestehende politische System hin- und herwechseln“ (Kirchheimer, 1965: 31). Sie ist also sowohl Oppositions- wie auch Regierungspartei. Im schweizerischen Politiksystem ist dies viel eher möglich als in einem Konkurrenzsystem, wo die Rollen zwischen Opposition und Regierung viel klarer verteilt sind. Es ist deshalb auch leichter, diese Unterthese Kirchheimers für die Schweiz zu testen. Es wäre angebracht, hier zu schauen, wie oft eine Regierungspartei jeweils in der Zeit zwischen zwei Wahlen das Schweiz-typische Oppositionsinstrument Referendum benutzt. Leider war es nicht möglich diesbezüglich Daten zu erhalten. Deshalb wurde auf ein einigermassen ähnliches und leichter zu beschaffendes Merkmal abgestellt: die Parolenfassung der Parteien bei nationalen Sachabstimmungen. Eine Partei kann mit ihrer Abstimmungsempfehlung ihrer Wählerschaft demonstrieren, dass sie mit der Politik der Regierung nicht einverstanden ist. Abbildung 13 zeigt den Anteil der von der bundesrätlichen Empfehlung abweichenden Parolen in den vier Jahren vor den jeweiligen Wahlen an allen Abstimmungen in dieser Periode. Daten standen für die Volksabstimmungen vom 2. März 1980 bis zum 28. September 1997 zur Verfügung. Zum Vergleich: die „typische“ Allerweltspartei hätte einen angenommenen Anteil von 50% (sie wechselt ständig hin und her...).


Abbildung 13: Anteil von der Empfehlung des Bundesrates abweichender Parteiparolen in den vier Jahren vor den entsprechenden Wahlen in Prozent.

Quellen: Annee Politique Suisse (1980 bis 1997), Bundesamt für Statistik

Während die FDP und die CVP vorwiegend als staatstragende Parteien betrachtet werden können, ist die Rolle der SP jene der „oppositionellen Regierungspartei“. In dieser Rolle scheint sie die SVP langsam abzulösen. Allerweltspartei-Merkmale weisen also hier vor allem die SP aber teilweise auch die SVP auf.

d)WenigKonstanz im Parteiprogramm

Das Parteiprogramm der Allerweltspartei weist wenig Konstanz auf. Die Partei auf Stimmenfang konzentriert sich vor den Wahlen auf jene Themen, die aktuell sind und die möglichst viele potentielle WählerInnen ansprechen. Die Verortung der Parteiprogramme auf der Links-Rechts-Achse wurde bereits weiter oben (vergleiche Abbildung 4 S. 5) angewandt. Um die Konstanz der Programme zu messen, wurden hier jeweils die Differenzen zum Programm der Vorwahlen berechnet. Je grösser die Differenzen ihrer Programme ­ so die Annahme ­ desto eher ähnelt die Partei einer Allerweltspartei, die sich nicht um Konstanz, sondern um Wirksamkeit ihrer Programme bei der Wählerschaft kümmert. Noch einmal wird Brändle (1999: 20) als Quelle herangezogen.


Abbildung 14: Parteiprogramme der Regierungsparteien auf der Links-rechts-Achse ­ Differenz zu den Vorwahlen

Quelle: Brändle, 1999: 20

Wie aufgrund der Abbildung 4 (siehe S. 5) nicht anders zu erwarten war, unterscheiden sich die Programme der FDP und der SP in der Zeit zwischen 1983 und 1991 jeweils stark von ihren Programmen der Vorwahlen. 1995 setzte vor allem die SVP andere programmatische Schwerpunkte vor den Wahlen. Leider sind auch hier bis jetzt nur Daten bis 1995 erhältlich.

e)Zunehmende Professionalisierung

Ladner / Brändle machen in ihrer Untersuchung zum „Reformbedarf der politischen Parteien in der Schweiz“ in den untersuchten 68 Kantonalparteien von FDP, SP, CVP und SVP in der Zeit zwischen 1960 und 1997 eine Zunahme der Professionalisierung aus. Sie messen diese anhand von Stellenprozenten. Auch die Allerweltspartei zeichnet sich aus durch professionelle Strukturen. Auf ihrer Entwicklung Richtung Allerweltspartei ­ falls diese denn überhaupt stattfindet ­ müsste also bei den Parteien eine zunehmende Professionalisierung auszumachen sein. Um dies zu messen, mache ich mir die Daten von Ladner/Brändle zu Nutze, indem ich als zunehmende Professionalisierung das Wachstum der Stellenprozente definiere. Zum Vergleich: alle Bundesratsparteien halten 1997 in den Kantonalsektionen total rund 74 Stellen zu 100%. 

Abbildung 15: Zunahme (bzw. Abnahme) an Professionalisierung in den Bundesrats-parteien, gemessen an der Veränderung der Stellenprozente in den Kantonalparteien (Werte unter 1 zeigen eine Abnahme der Professionalisierung an)


 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Quelle: Ladner/Brändle

Nach anfänglich grosser Zunahme der Professionalisierung insbesondere bei FDP und CVP ist ein „sinkendes Wachstum“ zu verzeichnen. Bei FDP und CVP ist sogar eine Abnahme der Professionalisierung zu beobachten. Alle Parteien sind aber recht weit weg vom Wachstum des Professionalisierungsgrades einer Allerweltspartei.

f)Heterogenität der Wählerschaft

Die Wählerschaft der Allerweltspartei ist heterogen. Die Heterogenität wird in vorliegender Arbeit in einfachster Form gemessen. Die Differenzen der verschiedenen (und verschieden erfragten) Merkmale der Wählerschaft (siehe Anhang, S. 21 ff.) der vier Regierungsparteien zwischen den einzelnen Wahlen werden summiert. Hohe Summen implizieren eine grössere Verschiebung der Wählerschaft zwischen zwei Wahlterminen. Je höher die Summe, desto heterogener die Wählerschaft. Die Werte in Abbildung 16 dürfen aufgrund der Datenlage lediglich als Tendenzen aufgefasst werden. Trotzdem lässt sich aus der Darstellung ableiten, dass die Wählerschaften der Regierungsparteien nicht immer heterogener werden. Es scheint im Gegenteil bei den Wahlen 1999 im Vergleich zu den Wahlen vier Jahre vorher einen Trend Richtung „Homogenisierung“ der WählerInnen stattzufinden.

Abbildung 16: Veränderung der Heterogenität der Wählerschaft der Regierungsparteien (je höher der Wert, desto heterogener die Wählerschaft; 0= die Wählerschaft unterscheidet sich in keinem der analysierten Merkmale zwischen zwei Wahlen, sie ist also soziokulturell identisch)


Quellen: VOX-Analyse der Wahlen 1979 bis 1991, selects 1995, Bundesamt für Statistik, „SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinstitut“

g)Die Parteien im Vergleich zum Idealtypus „Allerweltspartei“ ­ werden die schweizerischen Regierungsparteien zu „catch-all parties“?

Für jeden oben ausgeführten Punkt (a bis f) lässt sich eine Indizierung vornehmen. Dieses Vorgehen und die Tatsache, dass jeder Punkt gleich gewichtet wurde, gleicht den Umstand ein wenig aus, dass nicht für alle Jahre die gleiche umfangreiche Datenlage und das exakt gleiche Erhebungsinstrument vorliegt. Für jeden Punkt wird der „Idealtypus Allerweltspartei“ definiert. Die Summe der Indexpunkte der einzelnen Regierungsparteien in den einzelnen Wahljahren, gemessen an der Summe des „Idealtypus Allerweltspartei“, lässt für jede Partei in jedem Wahljahr eine Aussage über deren Weg Richtung Allerweltspartei machen. 

Abbildung 17 zeigt, wie die einzelnen Punkte indiziert wurden.

Abbildung 17: Indizierung der einzelnen Punkte und Vergleich mit dem Idealtypus Allerweltspartei.
 
Punkt
Werte und Index
„Idealtypus Allerweltspartei“
Bemerkungen
Parteientreue
50-60
61-70
71-80
81-90
91-100
50-60
Je kleiner Treue, desto eher AWP
5
4
3
2
1
5
Personenbezug
0-20
21-40
41-60
61-80
81-100
81-100
AWP = hoher Personenbezug
1
2
3
4
5
5
Ideologiebezug
0-20
21-40
41-60
61-80
81-100
0-20
AWP = tiefer Ideologiebezug
5
4
3
2
1
5
Wechsel Oppo-sition-Regierung
1-10
11-20
21-30/ 61-70
31-40/

51-60

41-50
41-50
AWP = 50% Opposition und 50% Regierung
1
2
3
4
5
5
Konstanz Partei-

programm

0-7
8-15
16-23
24-31
32-39
32-39
AWP = kein kon-stantes Programm
1
2
3
4
5
5
Zunahme Pro-

fessionalisierung

1-1.3
1.3-1.6
1.6-1.9
1.9-2.2
2.2-2.5
2.2-2.5
AWP = zunehmend professionalisierter
1
2
3
4
5
5
Heterogenität 

Wählerschaft*

0-7
8-15
16-23
24-31
32-39
32-39
AWP = heterogene Wählerschaft
1
2
3
4
5
5

AWP = Allerweltspartei

*Anteil der Summe der Partei an der Gesamtsumme aller Parteien in Prozent

Abbildung 18: Gesamtindizes der Regierungsparteien in den verschiedenen Wahljahren. Die Unterschiede beim Idealtypus „Allerweltspartei“ (AWP) ergeben sich aus der ungleichen Datenlage in den verschiedenen Wahljahren.
 
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
14
22
19
16
15
16
SP
13
22
20
23
18
17
CVP
15
13
13
18
18
17
SVP
10
17
17
18
22
18
AWP
25
35
30
35
30
30

Mit Hilfe der Indizes kann nun für jede Partei und jedes Wahljahr ihr „Allerweltspartei-Anteil“ (Summe der Merkmals-Werte gemessen am total möglichen Gesamtwert, der vom Idealtypus Allerweltspartei dargestellt wird) berechnet werden. Abbildung 19 stellt den Verlauf dieser Anteile aller Regierungsparteien dar.

Abbildung 19: Die Schweizer Regierungsparteien auf dem Weg zur catch-all party?



 

Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê
 
Ê

Die letzte Abbildung dieser Arbeit macht deutlich, dass auch die These Kirchheimers, dass sich die einzelnen Parteien in Richtung Allerweltspartei entwickeln, verworfen werden muss. Zwar weisen die Parteien einzelne Merkmale von Allerweltsparteien auf, doch lassen sich diese Merkmale nicht über den ganzen beobachteten Zeitraum von 20 Jahren feststellen. Ja weiter noch, die Parteien scheinen sich die Merkmale in den verschiedenen Wahljahren als Strategien anzueignen und auszutauschen. Die Anteile an „Allerweltspartei“ sind zwar recht hoch (alle Parteien weisen zu fast allen Zeitpunkten mindestens zur Hälfte „Allerweltsparteien-Charakter“ auf), es kann aber bei keiner Partei ­ zumindest im analysierten Zeitraum und mit den vorhandenen Daten ­ eine Tendenz Richtung Allerweltspartei ausgemacht werden.

Auch Ladner/Brändle kommen zum Schluss, dass „trotz Professionalisierung und stagnierender Mitgliederzahlen und obschon als Reaktion auf die höheren Anforderungen der Politik ein Trend zu mehr operativen Freiheiten der Parteiführungsgremien auszumachen ist, (...) die Schweizer Parteien noch weit davon entfernt (sind), sich zu professionellen Wählervereinen ohne jeden Rückhalt in der Bevölkerung zu entwickeln.“

Quellen- und Literaturverzeichnis

Brändle, Michael: Konkordanz gleich Konvergenz? ­ Die Links-Rechts-Positionierung der Schweizer Bundesratsparteien; in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Vol. 5, Iss. 1, 1999

Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy, 1957

Kirchheimer, Otto: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems; in: Politische Vierteljahresschrift 6. Jg. Heft 1 (20-41), 1965

Ladner, Andreas / Brändle, Michael: Reformbedarf der politischen Parteien in der Schweiz; auf http://www.polittrends.ch

Lijphart, Arend: Democracies ­ Patterns of Majoritarian and Consensus Government in Twenty-One Countries, New Haven, London, 1984

Linder, Wolf: Schweizerische Demokratie ­ Institutionen, Prozesse, Perspektiven, Bern, Stuttgart, Wien, 1999

Panebianco, Angelo: Political Parties: Organization and Power, Cambridge, 1988

Selects ­ wahlen ­ swiss electoral studies; hrsg. Von Kriesi, Hanspeter / Linder, Wolf / Klöti, Ulrich, Bern, Stuttgart, Wien, 1998

Umgruppierung der WählerInnen-Landschaft ­ bericht zur SRG SSR Wahlnachbefragung 99, erstellt durch das GfS-Forschungsinsitut; auf: http://www.polittrend.ch

VOX-Analyse der Nationalratswahlen 1979

VOX-Analyse der Nationalratswahlen 1983

VOX-Analyse der Nationalratswahlen 1987

VOX-Analyse der Nationalratswahlen 1991

Anhang:Heterogenität der Wählerschaft
 

Frauenanteil bei Wählerschaft 

1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
47
42
43
41
51
48
SP
40
40
45
48
54
53
CVP
40
46
43
47
53
52
SVP
42
28
44
47
46
44
Konfession (Anteil katholische WählerInnen)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
36
49
42
48
30
43
SP
30
31
39
27
31
25
CVP
91
93
93
84
78
75
SVP
7
24
9
16
29
20
Alter (20-39) ab 1991: 18-39 1995: 18-44
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
34
25
29
33
40
26
SP
29
37
35
39
52
38
CVP
25
30
25
26
44
31
SVP
29
31
33
36
36
38

Alter (40-85) 1995: 45 und älter

1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
66
75
71
67
60
74
SP
71
63
65
61
48
62
CVP
75
70
75
74
56
69
SVP
71
69
67
64
64
62

Beruf (Selbständig) (1983: freie Berufe, Untern. Selbst. Handw.) 1991: leitende Positionen

1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
20
22
14
36
SP
5
8
5
13
CVP
14
10
9
27
SVP
14
8
8
19

Beruf (leitende Angestellte / Beamte) 1991: mittlere Angestellte/BeamtInnen

1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
13
8
7
42
SP
6
5
2
53
CVP
3
7
9
34
SVP
3
2
5
33
Beruf (Angestellte / Beamte)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
29
29
17
10
SP
34
26
26
13
CVP
32
23
20
14
SVP
31
13
21
7
Beruf (Arbeiter) (1983: Facharbeiter, Ang. O. spez. Ausb. Ungel.Arb)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
16
15
8
9
SP
36
30
12
18
CVP
23
17
10
14
SVP
21
16
5
14
Beruf (Landwirte)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
11
2
4
3
SP
1
0
0
2
CVP
11
14
12
9
SVP
21
43
21
26

Berusfsstatus hoch

1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
33
30
21
36
39
41
SP
11
13
7
13
28
18
CVP
17
17
18
27
37
40
SVP
17
10
13
19
38
42
Eigentumsverhältnisse (Hausbesitzer)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
48
51
49
SP
23
23
29
CVP
59
53
56
SVP
72
67
50
Siedlungsart (Stadt - Land à WählerInnen in Landgemeinde)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
52
32
39
33
35
SP
34
26
30
27
29
CVP
59
40
68
42
37
SVP
47
60
58
39
42
Zufriedene mit bestehendem politischen System (tief zufrieden)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
12
7
SP
26
25
CVP
6
9
SVP
8
8

Links - Mitte - Rechts

1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
9 37 50
11 33 46
8 36 56
11 50 39
SP
69 26 4
76 16 3
69 20 11
79 18 3
CVP
13 43 43
9 34 47
12 46 42
14 57 30
SVP
10 36 49
6 47 45
4 25 71
3 22 75
Bildung (oblig., Berufsschule, Gymi od. Uni) 1995 (tief/mittel und hoch)
1979
1983
1987
1991
1995
1999
FDP
18 41 41
11 63 26
64 36
34 32 34
SP
25 51 24
12 57 31
57 43
22 33 45
CVP
24 59 17
18 56 26
63 37
42 28 30
SVP
26 50 24
13 74 13
72 28
32 45 23
Quellen
VOX 1979
VOX 1983
VOX 1987
VOX 1991
Selects
Wahlnachbe-fragung und Wahlbaro-meter

 

[1] Otto Kirchheimer war Mitglied der Frankfurter Schule im amerikanischen Exil und lebte von 1905 bis 1965
[2] Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy, 1957
[3] ((Anteil Linksx1)+(Anteil Mittex2)+(Anteil Rechtsx3))/100
[4] Aus zwei Gründen konzentriere ich mich lediglich auf die Regierungsparteien. Einerseits ist es Kirchheimer selbst, der behauptet, dass die grossen Parteien es leichter hätten, Allerweltsparteien zu werden und andererseits sind die Daten der VOX-Analysen, auf die ich mich hier hauptsächlich stütze für die kleineren Parteien nicht aussagekräftig. Die Vermutung liegt aber nahe, dass zum Beispiel der LdU (heute: die LdU) im Höhepunkt seines Erfolges durchaus „Allerweltspartei-Charakter“ aufgewiesen haben könnte.
[5] Angesichts der Datenlage und der Zeitnot liessen sich nur die hier erwähnten Punkte untersuchen.