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Aus der aktuellen Ausgabe |   Top Storys

Irren ist populär

Von Silvio  Borner

Die direkte Demokratie ist den Schweizern sehr lieb und sehr teuer. Ein Volksrecht wird allerdings gern vergessen: Jenes, falsch zu entscheiden.

Statt über den üblichen Kleinkram oder persönliche Befindlichkeiten streiten sich zwei Bundesräte – Blocher und Couchepin – über Grundfragen der Demokratie. Diese Debatte ist überfällig, mehren sich doch die Zeichen, dass unser politisches System immer weniger gut funktioniert.

Hat das Volk immer Recht? Mit dieser Frage brach Pascal Couchepin ein helvetisches Tabu. Sofort trat Christoph Blocher auf den Plan und proklamierte die «Volkssouveränität» als oberstes Staatsprinzip und den «Volkswillen» als absolute Kategorie.

Die Demokratie wird seit ihrer Entstehung in der Wissenschaft analysiert, in der politischen Philosophie, im Staatsrecht und in der politischen Ökonomie. Einig ist sich die Literatur darüber, dass die Macht im Staat vom Volk ausgehen müsse und nicht von Vorrechten wie etwa Familie oder Klasse. Aber wie das Volk sich selber regieren soll, ist nicht eindeutig. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Formen der Demokratie nebeneinander existieren: Es gibt Präsidial- und Parlamentssysteme, die Repräsentation durch Majorz- und Proporzwahlen, föderalistische und zentralistische Strukturen oder eben repräsentative und direkte Demokratien. Jedes System hat Stärken und Schwächen. Ein ideales Demokratiemodell gibt es nicht. Kernpunkt der Demokratie ist das allgemeine und freie Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger. Bis zur Einführung des Frauenstimmrechts rangierte die Schweiz deshalb abgeschlagen auf den hinteren Plätzen der Demokratieskala.

Drei vermeintliche Binsenwahrheiten

Die direkte Demokratie als unmittelbare Volksherrschaft, in der über alle Sachfragen einzeln abgestimmt wird, gilt für komplexe und grosse Gemeinschaften wie Staaten als nicht gangbarer Weg. Die Schweiz ist denn auch auf nationaler Ebene bloss eine halbdirekte Demokratie, weil Parlament und Regierung über viele abschliessende Kompetenzen verfügen. Ob Referenden und Initiativen die Qualität der Demokratie verbessern, ist kontrovers. Als gefährlich gelten von oben angeordnete «Plebiszite» sowie ein zu weit gehendes Initiativrecht. Gerade aus der Sicht der USA wird die strikte Gewaltenteilung, die sogenannten «checks and balances», als wichtiger eingestuft. Dass in strukturellen oder strategischen Fragen Volksabstimmungen die Legitimität der Politik verbessern, gilt aber als sicher.

Die populistische Version der Demokratie, wie sie auch von Bundesrat Blocher vertreten wird, beruht auf den folgenden drei Axiomen:

1 _ Das Volk ist der «Souverän» und ersetzt den ehemals souveränen Herrscher. Es hat somit in allen politischen Fragen das letzte Wort.

2 _ Der Volkswille kann mit Hilfe von Abstimmungen eindeutig und in demokratisch fairer Weise ermittelt werden.

3 _ Die Menschen sind nur dann frei, wenn die Gesetze dem Volkswillen entsprechen.
Diese auf J.-J. Rousseau zurückgehenden Grundannahmen scheinen auf den ersten Blick unanfechtbar. Sie sind jedoch unhaltbar.

Zum Punkt eins ist auf Nobelpreisträger Amartya Sen zu verweisen. Dieser zeigt den Konflikt zwischen Volksrechten und minimalen liberalen Individualrechten auf. Ob ich heute einen weissen oder schwarzen Pullover möchte, müsste von mir allein entschieden werden dürfen. Lassen wir darüber Mehrheitsentscheide zu, ist mit Widersprüchen zu rechnen. Wenn wir neben dem liberalen Konzept der Demokratie jenes der Freiheit als gleichwertig betrachten, dann wird es zulässig, dass (wie in den USA) das Oberste Gericht von der (Parlaments-)Mehrheit erlassene Gesetze ausser Kraft setzen kann.

In der populistischen Version erscheint dies «undemokratisch»; sieben Personen in schwarzen Roben schieben den Volkswillen beiseite. Aber diese Einschränkung des Souveräns durch die unabhängige Justiz erfolgt im Interesse der Freiheit des Einzelnen. Niemand ist für die Lynchjustiz. Und doch wäre es möglich, dass eine Mehrheit ein entsprechendes Urteil fällen würde. Ob mich ein Diktator oder die Mehrheit zu Unrecht zum Tode verurteilt, ist letztlich einerlei.

Demokratie bedeutet Widersprüchlichkeit

Zum zweiten Punkt gibt es drei wissenschaftlich fundierte Einwände, die aber ausserhalb der Fachwelt kaum zur Kenntnis genommen werden.

Zunächst zum Problem der Aggregation: Bei Wahlen und Abstimmungen stehen wir vor einem Konflikt zwischen Fairness des Verfahrens und Konsistenz der Ergebnisse. Vor mehr als fünfzig Jahren bewies der spätere Nobelpreisträger Kenneth Arrow dieses Paradox. Verkürzt sagt uns sein Theorem, dass eindeutige Ergebnisse von Abstimmungen oder Wahlen letztlich einen Diktator erfordern. Wenn wir keinen solchen haben wollen, müssen wir inkonsistente Kollektiventscheide in Kauf nehmen. Was das Volk entscheidet, hängt selbst bei stabilen Präferenzen der Einzelnen davon ab, wie abgestimmt wird. Dabei gibt es ein gutes Dutzend Abstimmungsregeln, die alle ihre Vor- und Nachteile haben und jeweils mindestens eine von Arrows Minimalbedingungen für Fairness verletzen. Das gilt insbesondere auch für die Regel der einfachen Mehrheit, sobald mehr als zwei Alternativen vorliegen. Bei fast allen Sachfragen gibt es jedoch mehr als zwei Optionen. Werden nur zwei davon dem Stimmbürger vorgelegt, erkennt man die Macht der «Agenda-Setter», die bestimmen, worüber, wie und wann abgestimmt wird. Früher konnte man z. B. bei Volksinitiativen mit Gegenvorschlag zweimal nein, aber nicht zweimal ja stimmen, heute ist Letzteres auch möglich. Spalteten sich früher die Veränderungswilligen gegenüber dem Status quo in zwei Lager, ist das nicht mehr der Fall – eine Stärkung der Position der Initianten.

Ein zweites Problem stellt die Deliberation dar: Vor einer Volksabstimmung muss für angemessene Informations- und Diskussionsmöglichkeiten gesorgt werden. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so widerspiegeln die Voten bloss zufällige oder absichtlich geschürte Emotionen, wenn nicht gar Illusionen. Das Nein zum Elektrizitätsmarkt-Gesetz als Denkzettel gegen die Abzocker? Das Nein zur erleichterten Einbürgerung eine Demonstration gegen die balkanischen Raser? Wird nur ein Bruchteil der Stimmen so abgegeben, sind Qualität und Legitimität des Volkswillens zumindest fragwürdig. Wer dies offen ausspricht, handelt nicht elitär, sondern ethisch. Ich darf die Überzeugung vertreten, dass in der dritten Generation hier geborene Ausländer ein moralisches Recht auf Einbürgerung haben. Ob eine Mehrheit so denkt oder nicht, ist bei derartigen Gesinnungsfragen völlig egal. Es ist etwas anderes, wenn ich abschätzen soll, wie viele Münzen in einem Kartoffelsack verpackt sind, oder gefragt werde, was ich von der Stammzellenforschung halte. Im ersten Fall tue ich gut daran, dem Urteil einer möglichst grossen Mehrheit zu folgen, weil die Schätzfehler durch die grosse Zahl «eingemittet» werden. Bei ethischen Fragen jedoch ist die Mehrheit weder Massstab noch Orientierungshilfe. Im Endeffekt kann, ja muss man auch über ethische Prinzipien abstimmen, aber nur nach qualifizierter Deliberation.

Aus den beiden ersten Einwänden folgt, dass Wahlen und Abstimmungen immer manipulierbar sind. Dazu existiert ein wissenschaftlicher Beweis (Gibbard-Satterthwaite-Theorem). So kann man bei mehreren Alternativen allein durch eine geschickte Reihenfolge oder Wahl des Abstimmungsprozederes das Ergebnis vorbestimmen. Oder man kann irrelevante Alternativen einführen, die das Resultat verfälschen – wie bei der EWR-Abstimmung von 1992. Eigentlich ging es um die Frage: EWR-Vertrag ja oder nein. Kurz zuvor wurde eine Option EU-Beitritt ins Spiel gebracht, jedoch nicht zur Abstimmung gestellt. Dies spaltete die EWR-Befürworter. Viele, die zum EWR eigentlich ja gesagt hätten, stimmten jetzt nein, weil sie nicht in ein «Trainingslager der EU» wollten.

Bei der Deliberation spielen das Geld und der Zugang zu den Massenmedien eine Rolle. Wir zeigen gerne mit dem Moralfinger auf die bösen USA, wo Präsidentenwahlen Milliarden verschlingen. Doch wer kennt die Zahl für die Ausgaben von Abstimmungskampagnen über eine Vierjahresperiode? Auch der Zugang zum Monopol-Medium Fernsehen mit seiner Polit-Sendung «Arena» steht nur politischen Insidern mit einem Hang zur rhetorischen Konfrontation offen.

Eingeschränkte Freiheit in der Schweiz

Damit sind wir bei Punkt drei: Gibt es keinen verfahrensunabhängigen Volkswillen, kann dieses leere Konzept auch nicht absolute Gültigkeit beanspruchen. Es gibt plausible Begründungen dafür, dass eine Mehrheit die Minderheit systematisch tyrannisiert, wie auch dafür, dass potenzielle Mehrheiten Abstimmungen verlieren. Absolute Versionen der Volkssouveränität haben Berührungspunkte mit dem Totalitarismus. Immer wieder haben sich charismatische und skrupellose Führer als Diener der Volksherrschaft etabliert. Mit Plebisziten kann man die Demokratie zerstören. Aus liberaler Warte ist der Mensch nur frei, wenn er selbst vor Übergriffen der Staatsmacht geschützt ist.

In der Schweiz ist es beispielsweise um das Recht auf Eigentum oder Wirtschaftsfreiheit nicht mehr zum Besten bestellt, wobei viele dieser Einschränkungen mehrheitsfähig sind. Wieso darf eine Mehrheit bestimmen, wann ich meinen Laden zu schliessen habe? Gerade den amerikanischen Gründungsvätern war die Gefahr bewusst, dass zu viel Demokratie mit der Zeit die Grundlagen der liberalen Marktwirtschaft und der liberalen Demokratie gefährden kann. Wird etwa eine Mehrheit der Abstimmenden durch die staatliche Altersvorsorge bevorzugt – die Generation 50 plus –, muss man sich nicht wundern, wenn langfristige Reformen abgelehnt werden.

Ohne Zweifel ist die Schweiz eine Demokratie, auf die wir stolz sein dürfen. Aber zu Überheblichkeit besteht kein Anlass. Ausländische Experten sind eher skeptisch. Das einstige Erfolgsmodell Schweiz ist nicht mehr so gut wie auch schon. Der kontinuierliche Ausbau der Volksrechte war vielleicht «too much».

In seinem Weltwoche-Interview vom 7. Oktober preist Bundesrat Blocher die Volkssouveränität und den Respekt vor dem Volkswillen. Auf die entscheidende Frage zum Schluss hin, «Wer regiert die Schweiz?», antwortet er jedoch nicht mit: «Das Volk.» Vielmehr nennt er die Verwaltung an erster Stelle und die Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften an zweiter. Zu diesem Schluss sind viele andere, lieber Herr Bundesrat, auch gekommen. Wenn die nicht praktizierbare direkte Volksherrschaft Parlament und Regierung derart schwächt, dass die Verwaltung und die Lobbys das Vakuum füllen, dann ist nicht nur die freie Marktwirtschaft bedroht, sondern auch die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger.

Silvio Borner ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel.

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